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Montag, 18. Oktober 2010

Tipps an die Bundesregierung II

Und da bin ich wieder, eine geschlagene Woche später. Wie meine neue Arbeit ist? Fragt nicht. Es schlaucht jedenfalls, macht aber auch Spaß, und ich habe keinen Leerlauf. Das ist das Beste daran.

Aber genug von mir, kommen wir zur Bundesregierung.
Da tönte Angela Merkel doch neulich auf dem Kongress der Jungen Union: Multikulti ist tot! Allerdings referierte sie auch darüber, dass Gastarbeiter in den Sechzigern von uns (also meiner Vorgängergeneration) ins Land geholt wurden, und das irgendwann einmal abzusehen wäre, dass sie für immer bleiben würden... Dass viel vernachlässigt wurde. Und so weiter.
Dennoch, trotz dieser einsichtigen Ansätze möchte ich mich heute an diesen ihren Worten aufreiben. Weniger an denen des Herrn Seehofers, der schon wieder am braunen Rand fischt, um seiner ehemaligen 50+-Partei irgend einen Hauch von Profil zu verleihen, bevor sie unwiderbringlich ein normaler Unions-Landesverband wird.
Oder um es anders auszudrücken: Wenn ein anständiger Bayer CSU wählt, wäre ich nur zu gerne ein UNanständiger Bayer. ^^

Multikulti ist also tot, Frau Merkel? Wie interessant. Die deutsche Leitkultur ist das, woran sich alles orientiert? Und wenn wir schon mal dabei sind, warum reinigen wir dann nicht gleich unsere geliebte deutsche Sprache von den widerlichen Anglizismen? (Um die Reinigung von einem Angliszismus-Begriff wäre ich MEHR als dankbar. Nämlich DNA. Ich habe es schon einmal geschrieben, und ich wiederhole es: DNA IST ENGLISCH! DAS A STEHT FÜR ACID! RICHTIG IST DNS, ALSO DAS S FÜR SÄURE! VERDAMMICH NOCHMAL!)
Worum geht es Angie? Um Völkerverständigung? Gezielte Zuwanderung? Fischen am braunen Rand? Oder um die europäisch-jüdische Leitkultur Deutschlands?
(Was für eine jüdische Kultur? Das Jiddisch ist eine Abart des Deutschen. Also haben die Juden eher eine europäische Kultur. Was ich übrigens sehr positiv finde.)
Geht es ihr um die Integration christlicher und Islamgläubiger Migranten?
Ehrlich gesagt weiß ich nicht, worum es ihr geht, um Deutschkurse für Zuwanderer, um bessere Ausbildung von Migrantenkindern, gerade in Deutsch. Oder einfach um eine polarisierende Debatte, um sich zu profilieren. Keine Ahnung. Vielleicht will sie sich auch nur einfach reden hören.

Aber zäumen wir das Pferd doch mal von hinten auf: Was ist deutsch?
Ich schreibe jetzt mal einen kleinen Text aus dem Gedächtnis, mit keinem Anspruch auf Vollständigkeit und Fehlerlosigkeit. Ich möchte ein bestimmtes Gefühl für Deutschland erzeugen. Ein Verständnis für das, was Deutschland ist.
Deutschland, Deutschland, dieses merkwürdige Land in der Mitte von Europa, woher kommt es, wohin geht es? Im Moment sind wir in sechzehn Bundesländer aufgeteilt, in denen die unterschiedlichsten Dialekte gesprochen werden. Wir kennen drei anerkannte Minderheiten in unserem Land, die besondere Rechte genießen, unter anderem vor Gericht in ihrer Muttersprache unterrichtet zu werden. Das sind die Friesen im Nordwesten Niedersachsens, die Dänische Minderheit in Nordschleswig, und die Sorben im südlichen Sachsen und Brandenburg. Ja, die sind da. Und das schon seit Jahrhunderten. Im Fall der Friesen sogar schon seit Jahrtausenden, denn der Stamm der Friesen wird von römischen Geschichtsschreibern erwähnt, zu einer Zeit, als man für die Völker nördlich des Limes (also nach der verheerenden römischen Niederlage im Teutoburger Wald, wo Feldherr Varus drei Legionen verlor, und Rom die Chance auf dauerhafte Beherrschung des eisigen Nordens verspielte) das gemeinsame Wort "Germanen" hatte.
Bleiben wir ruhig in dieser Zeit, in diesem Land, während klimatisch gerade eine Kaltzeit herrscht, und "Germanien" reichlich unwirtlich war, während das vom Golfstrom beschützte Brittannien sicherlich bessere Lebensbedingungen bot. Wir wissen nicht sehr viel über die Menschen hier, außer vielleicht, dass dreißigtausend Jahre zuvor die Neandertaler in dieser Region lebten, und die ersten Cro Magnon auf der Doggerbank, heutzutage in der Nordsee versunken, auf Mammutjagd gingen. Dorfgemeinschaften, kleinere Königshöfe, verschiedene Stämme und dergleichen wandten sich mehrheitlich gegen die Invasion der Römer. Das Land war nicht homogen, auch wenn das schwer zu sagen ist, in einer Zeit, die keine achthundert Millionen Menschen auf der ganzen Erde kannte. Das Land war Durchzugsgebiet verschiedener Völker und Stämme auf Wanderschaft, zum Beispiel der Ostgoten und Westgoten, die später eine Zeitlang Rom beherrschen sollten, und damit das weströmische Reich. Von der Wikingerkultur war noch nicht viel zu spüren, und erst mit dem Niedergang Roms machte östlich der Elbe zumindest der Stamm der Sachsen von sich reden.
Im Zeitalter des heiligen römischen Reiches deutscher Nation herrschten die Kaiser meist bis zur Elbe als Grenzfluss. Ihr Stammreich aber waren Frankreich, Spanien oder Süditalien und Sizilien.
Wirklich vereint wurden die Gebiete westlich und östlich der Elbe nie so richtig, auch wenn sie der Kaiserkrone Lehnspflichtig waren. Allerdings zum Preis der Kurfürstenschaft für die lokalen Herrscher, d.h. die durften bei der Kaiserwahl mitreden. Es war eine Zeit der unterschiedlichsten Kleinstämme und Völker: Friesen, Ostfalen, Westfalen, Sachsen, Bayer... Na, ich will mich mit meinem Halbwissen nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Und es war die Zeit der Kleinstaaten, der verschiedensten Interessengruppen. Besonders im Mittelalter erreichte die Kleinstaaterei ein neues Niveau. Daran änderten auch die Deutschritter nichts, die vom heutigen Ostpreußen und Polen aus versuchten, das heutige europäische Russland zu erobern. Diverse Pestwellen machten es auch nicht gerade leichter, aber mit dem Hansebund sprang der Handel an, unabhängig von der Kaiserkrone. Der Handel, und der Austausch von Menschen quer durch die Regionen.
Den Sprung in die neue Welt verpasste Deutschland damals. Aber es gab ja auch gar kein Deutschland. Nur einige größere Königreiche zwischen all den Kleinstaaten. Hannover. Hessen. Zum Beispiel. Und es gar die Reformation, die zu siebenunddreißig Jahren Krieg führten. Eine unruhige, blutige Zeit, in der Spanier, Franzosen, Schweden, und wer sich sonst noch beteiligen wollte, mit großen Heeren durch unser heutiges Deutschland marschierte. Eine furchtbare Zeit, die mehr Menschen das Leben kostete als die Pest. Aber immer noch kein Deutschland in Sicht.
Schauen wir auf die Zeit nach der Reformation, auf die Zeit, in der die Bürger den Glauben ihres Lehnsherren annehmen mussten. Auf eine Zeit, in der Hannover den englischen König stellte, auf eine Zeit knapp nach der Rennaissance, wo ein kleines, aber starkes Preußen Österreich Schlesien abnahm, und damit neues Land und neue Völker eroberte... Doch kein Deutschland.
Jetzt sind wir auf unserer mentalen Reise beinahe am Ende. Nur wenige Jahre später sollte sich alles ändern, als in Frankreich die Revolution los bricht. Ein König wurde vom Volk getötet, der Adel ebenfalls getötet, vertrieben oder seiner Titel beraubt. Die umliegenden Königreiche führten Kriege gegen das neue Frankreich, um diese gefährliche Idee nicht in ihre Reiche zu lassen: Die Preußen, die Hannoveraner, die Österreicher, die Russen, die Briten, sie alle legten sich mit den Revolutionstruppen an. Was zur Folge hatte, dass ein kleiner, genialer Feldherr der Franzosen eines Tages mit seinen Truppen wie einst Alexander der Große vor den Pyramiden von Gizeh stand. Gut, gut, letztendlich wurde dieser kleine Mann besiegt, der Napoleon Bonaparte hieß. Aber nicht einmal seine Selbstkrönung zum Kaiser konnte ausradieren, was die Revolution an Neuem brachten: Die vielen Kleinstaaten östlich des Rheins wurden zu großen Ländern zusammengefasst. Der Handel und die Zünfte wurden liberalisiert, und alte, verkrustete Strukturen wurden aufgebrochen. Neue Normen wurden eingeführt, und das metrische System trat seinen Siegeszug an. Die Ideen davon, dass jeder Mensch, egal wie viel er besitzt, genau eine Stimme hatte, gefiel den jungen Menschen, egal ob sie für oder gegen Napoleon gekämpft hatten.
Er gefiel ihnen so sehr, dass Mitte des Neunzehnten Jahrhunderts in der Paulskirche der Versuch unternommen wurde, ein gesamtdeutsches Parlament zu gründen.
Doch erst dem preußischen König Friedrich Wilhelm gelang es dann, tatsächlich das deutsche Kaiserreich zu gründen, nachdem er Napoleon den Dritten im Krieg von 1870 besiegte. Ironischerweise mit Hilfe der Franzosen, denn Berlin hatte in der Zeit der Hugenottenverfolgung viele wegen ihres Glaubens geflohenen Franzosen willkommen geheißen. Etwa zur selben Zeit kamen polnische Bergarbeiter ins Ruhrgebiet, um Steinkohle und Eisen zu fördern, die ein Deutsches Reich, das in die Zukunft wollte, dringend brauchte. Und das waren nicht die einzigen Völker, die nach Deutschland kamen und unser Land prägten. Tatsächlich stammen viele unserer gebräuchlichsten Wörter aus dem Französischen. Das war damals Trend. Heute ist halt gerade englisch dran. Vielleicht steht als Nächstes China an, wer weiß?
Gut, gut, nun hatten wir also Deutschland, auch wenn es nicht allzu lange gut ging. Das Deutsche Reich wurde zweimal zerschlagen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Polen reformiert, und Deutschland musste diese annektierten Gebiete aufgeben. Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen dann auch noch Ostpreußen und das Staatsgebiet östlich der Elbe unter russisches Protektorat; die Trennung in West und Ost wurde eingeleitet, begleitet von "deutschen" Flüchtlingsströmen in die spätere Bundesrepublik und die DDR.
Schauen wir einen Schritt weiter: Die Erholung und das Wirtschaftswunder schafften Arbeit, die getan werden wollte. Gastarbeiter wurden ins Land gerufen, wie einst die Polen für den Bergbau, oder die Hugenotten, die als Handwerker beliebt waren. Also nicht zum ersten Mal, und gewiss nicht zum letzten Mal. Während das für die BRD die Türkei, Spanien, Italien waren, zog es in der DDR die Menschen aus Ostblocknationen oder deren Sympathisanten an, etwa Vietnamesen. (Ich gebe zu, über diesen Aspekt bin ich nicht sehr gut informiert.)
Natürlich hätte man damals nicht den Kopf in den Sand stecken sollen, nicht sagen sollen: So, die gehen irgendwann wieder, wenn keine Arbeit mehr da ist. Stattdessen passten sie sich an, und wurden das, was wir ebenso wie Hugenotten und Polen schwammig mit deutsch beschreiben. Und der Trend hält noch immer an. Wir schreiten durch die Jahrzehnte, durch verschiedenste Wirtschaftskrisen und Kriege, und noch immer spült das Schicksal uns neue Menschen ins Land: Serben, Afghanen, Inder, Pakistani, Russen, Schwarzafrikaner im weitesten Sinne... Jetzt sind wir zwar in Deutschland, aber WAS sind wir Deutschen eigentlich?

Ich möchte diese Frage beantworten, nachdem ich eine halbe Stunde an diesem Text getippt habe, und zu meiner Verärgerung große Lücken hinterlasse.
Ich lebe in einer Welt, in der Roberto Blanco ein Star werden konnte. In der Jimmy Hartwig für den HSV und die Nationalmannschaft gespielt hat. Ein Karel Gott konnte bei uns auftreten, und selbst mit schütterem Deutsch gefeiert werden.
Die neuere Zukunft bietet ähnliche Beispiele: Kaya Yanar, Nazan Eckes mit türkischen Wurzeln, Nandini Mitra und Mona Sharma mit indischen Wurzeln können in Deutschland Erfolge feiern. Und das sind nur vier, die mir gerade eingefallen sind.
Was ist Deutschland? Das was es immer war: Der Schmelztigel vieler Interessen, vieler Völker und vieler Kulturen. Sicher, wir haben nicht alle Völker in Deutschland, aber darum geht es ja auch nicht. Aber wir sind und waren nie homogen, und wir werden es auch in Zukunft nicht werden. Denn "deutsch" bedeutet für mich vor allem eines: Absorption. Ja, wir absorbieren die Menschen aus aller Welt, und mit jedem einzelnen von ihnen definieren wir "deutsch" neu. Bis wir den nächsten absorbieren.

Multikulti ist tot, Frau Kanzlerin? Multikulti IST die deutsche Leitkultur, Entschuldigung, verdammt. Bitte machen Sie Ihre Hausaufgaben und ersparen Sie uns Platitüden. Und ach ja, ICH habe Sie nicht gewählt.

Edit am Mittwoch, den 20.10.2010:

Heute wies mich Janne auf einen eklatanten Fehler in diesem Post hin. Ich lasse sie selbst zu Wort kommen:
"Nur eine kurze Anmerkung: Es gibt eine dänische Minderheit in Südschleswig, nicht aber in Nordschleswig (Die Minderheit nennt sich selber dänische Südschleswiger).

Seit 1920 ist Schleswig in das dänische Nordschleswig und das deutsche Südschleswig geteilt, mit jeweils Minderheiten auf der anderen Seite der Grenze.

liebe Grüße, Janne"

Wieder was gelernt. Danke für die Korrektur, Janne. ^^b

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Nur eine kurze Anmerkung: Es gibt eine dänische Minderheit in Südschleswig, nicht aber in Nordschleswig (Die Minderheit nennt sich selber dänische Südschleswiger).

Seit 1920 ist Schleswig in das dänische Nordschleswig und das deutsche Südschleswig geteilt, mit jeweils Minderheiten auf der anderen Seite der Grenze.

liebe Grüße, Janne