Seiten

Mittwoch, 11. April 2012

BILD-Zeitung: Noch nie wurde so geschwurbelt und verdreht

Ich weiß, ich sollte es nicht tun, auf gar keinen Fall. Aber Mittwochs, wenn ich einkaufen gehe, fällt mein Blick beinahe wie ein Zwang auf die BLÖD und ihre Schlagzeile.
Heute, in prominenter Position, finden wir folgendes: Hartz IV - Noch nie wurde so viel geschummelt und getrickst

...sacken lassen.

Für uns, die wir keine BLÖD kaufen wollen, liefert BILD.de zum Glück den Artikel nach. Die Schlagzeile suggeriert hier, das es um 912.377 Fälle von aufgedecktem Sozialbetrug geht - die Meldung suggeriert sogar, dass es 912.377 Einzelpersonen seien. Wenn man weiter liest, erfährt man aber, das im letzten Jahr lediglich 912.377 sogenannte Sanktionen verhängt wurden, die von aufgedeckten Betrugsversuchen und Tricksereien bei Hartz IV nicht weiter entfernt sein können. Damit rudert BLÖD doch mächtig zurück, und aus der Meinungsbildenden Kopfschlagzeile (bei der ich sofort davon ausging, dass BLÖD auch abgelehnte Anträge mit eingerechnet haben musste, aber es wurde wesentlich schlimmer) wird nach der Filetierung der ganze große Quatsch, wie er nun mal in BLÖD steht, offenbart.
582.353 Fälle von ausgesprochenen Sanktionen wurden laut der Website verhängt, weil Termine nicht eingehalten wurden. Darunter fallen laut BLÖD auch Vorstellungstermine bei potentiellen Arbeitgebern, was die Möglichkeit für diese Sanktion doch sprunghaft in die Höhe schnellen lässt.
Eine lukrative Einsparung für die Hartz IV-Verwalter, denn im Schnitt wurden laut BLÖD Kürzungen von über 115,- Euro vorgenommen. Das sind fast sechzig Millionen Euro, die nicht ausgezahlt wurden.
Gut, mag jetzt der eine oder andere sagen, bleibt das Geld wenigstens in den Sozialkassen.
Schlecht, sage ich, denn die Menschen, die dieses Geld nicht kriegen, bei einem Hartz IV-Satz von 364,- Euro, haben ein Anrecht auf dieses Geld, weil sie zuvor gearbeitet und in die Sozialkasse eingezahlt haben. Davon abgesehen sind es über 115,- Euro, die sie weniger haben, die sie nicht wieder in die Wirtschaft zurückführen können. Oder anders ausgedrückt: Sechzig Millionen Euro sind letztes Jahr nicht in den Wirtschaftskreislauf zurückgewandert. Das ist schlecht. Für den Binnenmarkt. Für den Mittelstand. Für die Konjunktur. So wurden also auf dem Rücken sozialer Kürzungen wir alle geschwächt. Ich halte das für sehr kurzsichtig und dumm.

Es geht aber auch noch weiter im Artikel.
So sollen 147.135 Fällen Kürzungen ausgesprochen worden sein, weil gegen die Wiedereingliederungsmaßnahmen verstoßen wurde, z.B. die Anzahl der Bewerbungen wurde nicht eingehalten. Macht noch mal rund fünfzehn Millionen Euro, die den Hartz IV-Empfängern und damit der Wirtschaft vorenthalten wurden. Denn machen wir uns da nichts vor: Von 364,- Euro kann kein Haushalt in Deutschland Rücklagen bilden. Das Geld geht dementsprechend garantiert wieder in den Wirtschaftskreislauf ein, und nicht auf die Kayman-Inseln oder die Seychellen, wo es der deutschen Wirtschaft überhaupt nichts nutzt.
In 138.312 Fällen wurde die Geld-Keule geschwungen, weil eine Fortbildungsmaßnahme, eine Arbeit oder eine Ausbildung abgebrochen oder gar nicht erst angetreten wurde. Abgesehen vom freien Willen des einzelnen Menschen, was man tun will und was nicht, der hier abgeschafft wird, bringt es der Sozialkasse wieder rund vierzehn Millionen Euro Einsparungen auf Kosten der Hartz IV-Empfänger und der deutschen Binnenwirtschaft.
Wenn wir das mal kurz zusammenrechnen, dann kommen wir auf eingesparte knappe neunzig Millionen Euro. Knappe neunzig Millionen Euro, die nicht wieder in die Wirtschaft eingeflossen sind. Knappe neunzig Millionen Euro, die denen vorenthalten wurden, die sie brauchten und brauchen.
Jetzt höre ich die ersten schon wieder reden: Aber diese Sozialschmarotzer... Oder: Wenn sie doch aber gegen ihre Auflagen verstoßen haben... Oder auch sehr beliebt: Die hängen doch sowieso nur Zuhause ab, schauen fern und trinken Bier und lassen ihre Kinder verkommen, genauso wie man es auf RTL immer sehen kann...
...sacken lassen.

Ich möchte an dieser Stelle eines klar sagen: Die rund neunhunderttausend Fälle vom Anfang des Artikels treffen erstens schon mal keine rund neunhunderttausend Personen oder gar Haushalte. Hier haben wir automatisch auch Mehrfachstrafen, d.h. einzelne Personen wurden mehrfach belangt, was die Zahl, hm, keine Ahnung, vielleicht halbieren würde.
Davon einmal abgesehen sind die Hartz IV-Familien aus dem Fernsehen, die nur Bier trinken und ihre Kinder vernachlässigen, in Messie-Häusern leben und das mit zweihundert Hunden und Katzen... Richtig: Fernsehen. Das als repräsentativ für alle Menschen zu sehen, die Hartz IV kriegen, ist eine unglaubliche Dummheit von jedem, der das tatsächlich glaubt.
In der Realität sieht es so aus, dass jeder Mensch, der länger als ein Jahr arbeitslos ist, in Hartz IV rutscht, und dann mit 364,- Euro sein Leben bestreiten muss. Zwar gibt es Zuschüsse zu den Heizkosten, zur Miete, aber die 364,- Euro müssen für alles andere reichen. Darin ist alles enthalten: Von neuen Möbeln, dem Kino- beziehungsweise Theaterbesuch über das Bier für den sozialen Umgang in der Stammkneipe, Bekleidung und Telefon bis hin zur Busfahrkarte.

Stellt Euch mal vor, Ihr seid arbeitslos geworden und findet nicht sofort wieder einen Job. Dann kommt das große Hartz IV-Stigma. Man kann darauf verzichten, es zu beantragen, aber dann hat man gar nichts mehr und lebt von seinen Reserven. Das mag für einige möglich sein, aber sicher nicht für den Durchschnittsmenschen.
Dann sage ich: Willkommen. Ihr seid mit einem Schlag in der Gruppe deutscher Bürger gelandet, die von Zeitungen wie BLÖD und Sendern wie RTL am meisten gehasst und stigmatisiert werden. Ihr seid plötzlich bei den Leuten, die als Kindervernachlässigende, saufende, unsoziale Knallchargen charakterisiert werden.

Fazit: Natürlich habe ich mich von vorne herein darüber aufgeregt, als ich die Schlagzeile las. Mir war klar, das es keine neunhunderttausend Einzelpersonen geben konnte, die den Staat betrügen und bescheißen. Für die BLÖD war es eine folgerichtige Schlagzeile, es war das gute alte "Erst mal behaupten"-Spiel.
Wie sich dann herausstellte, ging es gar nicht um Strafen für versuchten Betrug, sondern um die Anzahl verhängter Sanktionen, also Geldkürzungen, und dies auch in über neunhunderttausend Fällen, nicht bei neunhunderttausend Personen, geschweige denn Haushalten.
Aus dem Lug und Betrug der Schlagzeile wurde ein soziales Problem. Denn so wie ich das sehe, sind die Behörden angehalten, möglichst viel Hartz IV zu sparen, und das tun sie dann auch. Mit jedem Jahr mehr, weil sie dazu lernen und besser darin werden, denen, die wenig und gar nichts haben, noch mehr vorzuenthalten.

Vom Hartz IV-Etat, der rund 49 Milliarden Euro umfasst, sind allerdings nur 24 Milliarden dazu bestimmt, an die Hartz IV-Empfänger ausgezahlt zu werden. Rund die Hälfte aber fließt zugunsten einer Branche, die es nur dank Hartz IV gibt.

Ich fasse zusammen. Hartz IV-Empfänger sind eher selten schuld an ihrem Schicksal. Jeder kann in seinem Leben auf Hartz IV angewiesen sein, und das Stigma bekommen, das Zeitungen wie BLÖD und Sender wie RTL fleißig betreiben. Hartz IV bedeutet dunkelsten sozialen Abstieg. Hartz IV bedeutet auch, das man Behauptungen aufstellen kann wie die BLÖD heute - anscheinend auch schlicht und einfach lügen, weil Hartz IV-Empfänger der Feind des Sozialstaats sind, und überhaupt allgemein unfähig.
Oft wird ja gesagt, es gibt so viel Hartz IV-Geld, das die Menschen keine Lust haben zu arbeiten.
Hm, rechnen wir doch mal fix aus, wie viel man bei einem Mindestlohn (Brutto) von 8,23 € in einem Monat mit Vierzig-Stunden-Woche verdienen würde. Wir gehen von zweiundzwanzig Tagen aus, sprich: 22 Tage X 8 Stunden X 8,23€ = 1448,-€, Brutto, wohlgemerkt.
Das macht laut der Seite vom Lohnsteuerhifeverein für einen Alleinstehenden ohne Kinder mit Steuerklasse I fast 1.043,- € Netto. Das ist für jeden, der in einem ordentlichen Lohnverhältnis steht, natürlich keine ansprechender Lohn. Aber es ist mehr als Hartz IV.

Der Witz bei der Geschichte ist allerdings: Dank der CDU haben wir nicht mal den Mindestlohn in Deutschland, und dank der viel zu niedrigen Hartz IV-Sätze wird plötzlich sogar ein Stundenlohn von sechs Euro in einem vollen Arbeitsmonat attraktiv. Allerdings, wenn die Menschen weniger verdienen, geben sie auch weniger aus, und das schadet wiederum der Wirtschaft.
Ist aber auch zu komisch, wenn man von der Lohn-Preis-Spirale spricht, die Preise aber anziehen, obwohl die Löhne sie gar nicht mehr jagen, aber das nur am Rande.
Betrogen, verarscht, klein geredet, belächelt und verflucht, und auch noch gezwungen, ausgebeutet zu werden um skrupellose Unternehmer reich zu machen, das ist Hartz IV in Deutschland.
Wer gewinnt hier? Derjenige, der das Kapital hat und skrupellos genug ist, seinen Angestellten nur sechs Euro oder weniger in der Stunde zu zahlen. Und all das auf dem Rücken von Hartz IV und jenen, die in dieses Stigma hinein gezwungen werden.
Es wird Zeit, das sich zwei Dinge in Deutschland ändern: Hartz IV und Dumping-Löhne. Ist nur beides nicht mit CDU/CSU und FDP zu machen.
Und wenn wir schon mal dabei sind: Liebe SPD, ich als treues Mitglied sage Euch, Ihr habt uns Hartz IV eingebrockt, also korrigiert dieses System, das sich als unglaublicher Fehler heraus gestellt hat, bitte wieder.


Edit am 13.04.: Gleich mal auf Bildblog zum selben Thema verlinken.

2 Kommentare:

Olaf hat gesagt…

So wie dein ganzer Beitrag wohl ein Spiegelbild der gausamen Realität in Deutschland beschreibt, ist leider der Letzte Satz nur zu wahr. Da wurde mit der Agenda 2010 die Büchse der Pandora geöffnet und mit den damit enthaltenen Grausamkeiten konnte die CDU / F.D.P. Koalition unser Land ein wenig kälter werden lassen. Also hoffen wir das die SPD mit welchem Partner auch immer noch einmal die Channce erhölt korrekturen vorzunehmen.

Ace Kaiser hat gesagt…

Was mir schwer im Magen liegt: Als Gerhard Schröder mit Hilfe der Hartz-Kommission die Hartz-Reformen beschlossen hat, fand ich das noch für sinnvoll. Verschlankung der Bürokratie, Bündelung der staatlichen Ausgaben, Aufschlüsselung der wahren Bedürfnisse.
Der Wegfall so viele weiterer Bezüge, bzw. sie alle in den Regelsatz zu schieben, ist für mich eine erschreckende Entwicklung, ebenso wie die Billiglohnsektor-Industrie, die in ihrem Schatten aufkam, aber - das unterstelle ich ihm - nicht in Gerds Sinne war.
Ich weiß nicht, wie viele gesunde Firmen, wie viele gut bezahlte Arbeitsplätze zerstört wurden, weil sich Billig-Firmen mit Dumping-Löhnen und staatlicher Förderung an ihren Marktanteilen bereichern konnten.
Und ich weiß nicht, wie viele Firmen "billiger" produzieren müssen, um mithalten zu können, und deshalb bei den Lohnkosten sparen.

Letztendlich ist alles, was Angie und Co., und das sage ich als Sozialdemokrat, mit der Agenda 2010 verschlimmern konnten, nur eine Weiterentwicklung dessen, was Gerd Schröder unterschrieben hat (weil es die Wirtschaft gefordert hat, damit sie gesund bleibt und Arbeitsplätze entstehen können; aber wir sehen, ohne kraftvolles Kontra, ohne gesunde, schlagkräftige Gewerkschaften verkommt der Lohnsektor zum Dumping-Sektor). Und da die CDU noch Industriehöriger als eine SPD unter Schröder ist, wird es naturgemäß schlechter.
Auch die Linke konnte nur entstehen, weil die SPD das soziale Thema zugunsten der Wirtschaftsthemen vernachlässigt hat.
Back to the roots, SPD.